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In der Flüchtlingskrise reden die Europäer vor allem übereinander. Aber auch wenn sie miteinander reden, kommen sie einer Lösung kaum näher, wie sich beim Weltwirtschaftsforum in Davos zeigt.
Die Marschrichtung hatten am Mittag die Österreicher vorgegeben. 37.500 Flüchtlinge dieses Jahr, 127.500 maximal bis Ende 2019 – eine klar definierte Obergrenze, gepaart mit "konsequenten" Grenzkontrollen, kündigte Bundeskanzler Werner Faymann völlig überraschend an. Eine Maßnahme, die den "Leidensdruck" für eine gesamteuropäische Lösung erhöhen werde, wie Außenminister Sebastian Kurz sagte.
Doch die scheint ferner denn je. Diese Erkenntnis offenbart schonungslos das Weltwirtschaftsforum in Davos, das sich eigentlich zum Ziel gesetzt hat, die Probleme der Welt durch globale Allianzen zu lösen.
Selbst zwischen jenen europäischen Staaten, die bislang großzügig Flüchtlinge aufgenommen haben, häufen sich die Alleingänge angesichts des ungebremsten Zustroms an Migranten. Es besteht weder Einigkeit darüber, wie der Zustrom gebremst, noch wie die Last von allen Europäern geschultert werden kann.
Gabriel: "Nicht viele europäische Partner werden helfen"
"Ich habe keine Hoffnung, in kurzer Zeit die polnische oder auch die französische Regierung davon zu überzeugen, bei der Lösung der Krise mitzumachen", sagte Wirtschaftsminister und Vizekanzler Sigmar Gabriel. Die Länder hätten rechtspopulistische Parteien, denen die Aufnahme von mehr Flüchtlingen zusätzlich Wähler zutreiben würden.
"Wir brauchen die Koalition der Willigen, um zu einer Kontingent-Lösung zu kommen", sagte Gabriel. Gleichzeitig machte er sich aber wenig Illusionen über die Anzahl seiner Koalitionspartner. "Ich werde nicht viele europäische Partner finden, die helfen werden."
Gabriel äußerte sich auf einem hochkarätig besetzten Panel "Von der Migration zur Integration", das von Mathias Döpfner, dem Vorstandsvorsitzenden des Axel-Springer-Verlags, in dem auch die "Welt" erscheint, geführt wurde.
Neben Gabriel debattierten der schwedische Premier Stefan Löfven, der serbische Premier Aleksandar Vucic, der Generalsekretär der Flüchtlingsorganisation IOM, William Lacy Swing, Chobani-Vorstandschef Hamdi Ulukaya und die Sozialarbeiterin Simone Boll aus Davos über das Problem, das in Europa am stärksten drängt.
"Diese Krise hat das Potenzial, Europa zu sprengen – oder zu stärken", machte Döpfner klar, was auf dem Spiel steht. Beherrscht wurde die Debatte aber zunächst einmal von der Frage, wie viel Migration Deutschland und Europa überhaupt verkraften.
Darauf hatte zuvor bereits der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck in bemerkenswerter Klarheit hingewiesen. Er sprach sich in Davos für eine Begrenzung der Flüchtlingsströme nach Europa aus. Im Interesse eines funktionierenden Gemeinwesens müsse die Politik Begrenzungsstrategien entwickeln: "Begrenzung hilft, Akzeptanz zu erhalten", sagte Gauck. Die Debatte sei in Deutschland inzwischen so weit gediehen, dass zu erwarten sei, "dass verschiedene Formen von Steuerung und Begrenzung in diesem Jahr greifen werden".
Die Vorlagen aus Österreich und vom deutschen Bundespräsidenten sowie die Zusammensetzung des Podiums verhießen eine lebhafte Diskussion. Deutschland und Schweden gehören zu den Ländern, die die meisten Flüchtlinge bislang aufgenommen haben. In beiden Ländern ist die Stimmung in der Bevölkerung inzwischen umgeschlagen. Serbien wiederum ist eines der Transitländer auf der Balkanroute. Immer wenn ein Land im Westen seine Grenzen schließt, bekommt Belgrad das ganz besonders zu spüren.
Vucic: "Werden die Menschen nicht aufhalten können"
Der serbische Premier Vucic sieht sich heftigen Turbulenzen in der ohnehin instabilen Region gegenüber. "Wenn wir die Krise nicht bald lösen, hat das schreckliche politische Konsequenzen für Europa", fürchtet der serbische Premier. Viele Beobachter argwöhnen, dass auf dem Balkan alte Animositäten ausbrechen könnten, sollte Europa nicht eine gemeinsame Lösung finden. "Wir brauchen entschiedene Politik. Aber wir sehen keine europäische Politik", sagte Vucic.
Viele Länder wollten zu Europa gehören, als es darum ging, dass Gelder verteilt werden. Bei den Lasten würden sie sich nun egoistisch verhalten. Sein Land habe Angela Merkels Politik immer unterstützt. "Wir waren sehr kooperativ, viel mehr als die meisten anderen." Er fürchte aber, dass Serbien sich damit nicht im europäischen Mainstream bewege. Und noch eine Befürchtung hat der serbische Premier. "Der Schutz der EU-Grenzen wird nicht funktionieren. Wir werden die Menschen nicht aufhalten können."
Der Unternehmer Hamdi Ulukaya, der mit dem Verkauf von griechischem Joghurt in Amerika ein Milliardenvermögen gemacht hat, wirft der Politik bei der Flüchtlingskrise Bürokratie vor und will mit privater Initiative Jobs für Flüchtlinge schaffen. "Sobald ein Flüchtling Arbeit hat, ist er kein Flüchtling mehr", so sein Credo.
Auch in der Schweiz wird das Thema Flüchtlinge viel diskutiert. Nicht umsonst wurde das Panel als Open Forum innerhalb des WEF veranstaltet, zu dem auch der Normalbürger und nicht nur die geladene - und zahlende - Elite Zugang hat. Und tatsächlich herrschte großer Andrang. Schließlich beheimatet Davos zwei Flüchtlingszentren mit insgesamt 150 Migranten.
Die Ängste und Vorurteile in der Bevölkerung sind mannigfaltig. In Schweden beispielsweise sorgte eine einfache Statistik für Aufruhr. Durch den überwiegenden Zustrom männlicher Migranten liegt das Verhältnis zwischen männlichen und weiblichen Jugendlichen inzwischen bereits bei 123 zu 100. Nach Erhebungen von Eurostat sind europaweit 73 Prozent der 1,2 Millionen Asylbewerber Männer.
Eine Art Flüchtlings-Anleihe soll lanciert werden
Einig waren sich die Panel-Teilnehmer darin, dass Europa mehr Geld in die Anrainerstaaten der Krisenländer investieren muss, um bei der Versorgung der Flüchtlinge in Heimatnähe zu sorgen. "Der Libanon hat fünf Millionen Einwohner und eine Millionen Flüchtlinge", zeigte Gabriel die Dimension auf. Die Flüchtlingsbewegung gen Westen habe erst im Sommer Fahrt aufgenommen, nachdem die Vereinten Nationen über das Welternährungsprogramm die Zuwendenungen in Länder wie Libanon oder Jordanien gekürzt habe.
17 Jahre lang sei ein Flüchtling durchschnittlich fern der Heimat, hatte die jordanische Königin Rania am Nachmittag in Davos gesagt. Ein Zeitraum, der deutlich mache, dass in der aktuellen Flüchtlingskrise weit mehr gefordert sei als ein kurzfristiges humanitäres Engagement. "Wir brauchen nicht nur Hilfe und Linderung, sondern Wachstum und Investment – Sonderwirtschaftszonen etwa, in denen die Flüchtlinge Refugee-Produkte für den Export produzieren", sagte die Königin. "Nur ein Job schafft Unabhängigkeit."
Um die nötigen Mittel aufzubringen, will das WEF die privaten Unternehmen stärker in die Pflicht nehmen. In Davos soll am Donnerstag ein Humanitarian Impact Bond, eine Art Flüchtlings-Anleihe, lanciert werden. Andere Initiatoren setzen auf die Vergabe von Mikro-Krediten an Migranten, um ihnen die Eingliederung zu erleichtern. All diese Maßnahmen sollen dazu beitragen, den Kontinent zu retten und dafür zu sorgen, dass Alleingänge wie der der Österreicher keine Schockwellen mehr auslösen können.